Agentic AI: Was macht eine KI wirklich agentisch?
- Generative AI Works

- 9. Juni
- 4 Min. Lesezeit

In der Diskussion rund um Agentic AI fällt häufig das Wort „Autonomie“. Doch Autonomie allein reicht nicht aus, um ein System als agentisch zu bezeichnen. Auch dann nicht, wenn eine KI Entscheidungen trifft oder Abläufe eigenständig ausführt.
Agentic AI steht für ein grundlegend anderes Architekturprinzip – eines, das nicht nur die Frage stellt, was eine KI tut, sondern wie sie es tut, warum sie so handelt und unter welchen Bedingungen sie in der Lage ist, ihr Verhalten flexibel anzupassen – ohne dass ein Mensch dies explizit anstoßen muss.
1. Zielorientierung statt bloßer Aufgabenabarbeitung
Der entscheidende Unterschied zwischen agentischen Systemen und klassischer Automatisierung liegt in der Art, wie Ziele verarbeitet werden. Ein Agent folgt nicht einfach starren If-Then-Regeln. Er verfolgt ein übergeordnetes Ziel und ist in der Lage, dieses selbstständig in konkrete Handlungsschritte zu übersetzen.
Dazu gehört, dass er den Zweck einer Aufgabe versteht, sie in den jeweiligen Kontext einordnet und zwischen verschiedenen Handlungsoptionen abwägt – und zwar nicht statisch, sondern dynamisch und situationsabhängig.
Ein klassisches Beispiel:
Ein RPA-System kann Rechnungen sortieren, prüfen und weiterleiten.
Ein agentisches System hingegen erkennt, dass eine Lieferung überfällig ist, ein Vertragskonflikt besteht und der betroffene Kunde Priorität hat, und leitet eigenständig eine alternative Eskalationsstrategie ein, selbst wenn dieser Fall nicht explizit vorgesehen oder programmiert wurde.
2. Selbstständige Strategieanpassung bei Umweltveränderung
Ein wirklich agentisches System erkennt Veränderungen in seiner Umgebung und reagiert nicht nur darauf, sondern passt sein Verhalten aktiv an. Es folgt nicht starren Entscheidungsbäumen, sondern arbeitet auf Basis von Feedback-Schleifen, interner Zustandsrepräsentation und – im Idealfall – proaktiven Annahmen darüber, was als Nächstes passieren könnte.
Konkret heißt das: Wenn ein Agent erkennt, dass sein bisheriger Plan nicht zum gewünschten Ergebnis führt, ändert er die Strategie – nicht, weil ihn jemand neu programmiert hat, sondern weil sein internes Modell die Situation anders bewertet und eine Kurskorrektur erforderlich macht.
Ein Beispiel aus der Praxis:
Ein virtueller Recruiting-Agent stellt fest, dass bestimmte Gruppen von Kandidat*innen auf eine Reihe von Nachrichten nicht reagieren. Statt dies zu ignorieren oder zu wiederholen, passt er eigenständig den Tonfall, den Versandzeitpunkt und den Kommunikationskanal an – ganz ohne manuelles Eingreifen durch die HR-Abteilung.
3. Echtzeitlernen und kontinuierliche Selbstverbesserung
Viele Systeme, die heute als „intelligent“ vermarktet werden, lernen in Wahrheit nur offline – etwa durch regelmäßiges Retraining oder manuelles Feintuning. Ein Agent im eigentlichen Sinne hingegen muss während der Ausführung lernen können: durch Trial-and-Error, durch Rückmeldungen aus der Umwelt oder durch interne Bewertungen seines bisherigen Handelns.
Diese Form des Echtzeitlernens ist entscheidend, denn ohne sie bleibt die Autonomie rein formal. Ein System, das sich nicht kontinuierlich selbst verbessern kann, ist vielleicht automatisiert, aber nicht agentisch.
4. Multiagenten-Fähigkeit und koordinierte Interaktion

Ein einzelner Agent kann effizient arbeiten – aber sein volles Potenzial entfaltet sich oft erst im Zusammenspiel mit anderen. Echte agentische Systeme müssen in der Lage sein, mit anderen Agenten zu interagieren: kooperativ, konkurrierend oder koordinierend.
Dabei geht es nicht nur um technische API-Kommunikation, sondern um die Aushandlung gemeinsamer Ziele, die Verteilung von Rollen und das Entstehen emergenten Verhaltens – also von Dynamiken, die nicht zentral vorgegeben, sondern dezentral ausgehandelt sind.
Ein anschauliches Beispiel:
In einer komplexen Lieferkette verhandeln agentische Systeme miteinander über Produktionszeitpunkte, Kapazitätsengpässe und Transportoptionen – nicht über ein zentrales Steuerungssystem, sondern über dezentrale Entscheidungslogiken, die auf gemeinsame Zielerreichung ausgerichtet sind.
5. Flexible Entscheidungslogik – jenseits statischer Regeln
Ein agentisches System muss in der Lage sein, Ausnahmesituationen zu erkennen und angemessen zu handeln – auch dann, wenn es dafür keinen vordefinierten Regelpfad gibt.
Das bedeutet: Wenn zwei Ziele miteinander in Konflikt stehen – etwa Geschwindigkeit versus Präzision –, sollte ein Agent den Kontext analysieren und auf dieser Basis eine nachvollziehbare, begründete Entscheidung treffen. Nicht durch Zufall oder starre Priorisierung, sondern anhand von Kriterien, die er verstanden und abgewogen hat.
Ein Beispiel:
Ein KI-gestützter Kundensupport-Agent steht vor der Entscheidung, ob er schnell auf eine Anfrage reagiert oder sich mehr Zeit für eine präzisere Antwort nimmt. Ein agentisches System wägt hier automatisch ab – basierend auf dem Nutzerprofil, dem bisherigen Gesprächsverlauf, der Stimmung des Gegenübers und der Einschätzung des Risikos – und wählt eine Strategie, die dem Gesamtziel bestmöglich dient.
6. Menschliche Kontrolle bei Agentic AI: Ja – aber nicht auf jedem Schritt
Ein weitverbreitetes Missverständnis besteht darin, dass Agentic AI vollständig autonom funktionieren müsse. Doch völlige Autonomie ist weder realistisch noch verantwortungsvoll – insbesondere in sicherheitskritischen Anwendungen.
Vielmehr gilt:
Je höher das Risiko einer Fehlentscheidung, desto stärker muss die menschliche Kontrolle mitgedacht werden.
In Bereichen wie Content-Generierung, interner Analyse oder strategischer Planung kann ein Agent durchaus eigenständig agieren.Doch in Feldern wie Medizin, Finanzwesen oder Recht müssen gezielte Eingriffspunkte vorhanden sein, über die der Mensch Verantwortung übernehmen kann – ohne das System komplett zu steuern.
Die entscheidende Frage lautet daher nicht: „Ist der Mensch noch beteiligt?“ Sondern:
Findet Kontrolle auf strategischer Ebene statt oder ersetzt sie operative Autonomie vollständig? Nur im ersten Fall sprechen wir von echter Agentik.
Agentik ist keine Frage des Grades, sondern der Systemarchitektur
Agentische Systeme erkennt man nicht daran, dass sie „ein bisschen autonom“ wirken oder „intelligent genug“ erscheinen. Sondern daran, dass sie in der Lage sind,
übergeordnete Ziele zu verstehen,
eigene Lösungswege zu entwickeln,
sich proaktiv an Veränderungen anzupassen,
aus Erfahrungen selbstständig zu lernen,
und mit anderen Systemen dezentral zu kooperieren – ohne zentrale Steuerung.
Alles andere bleibt – so nützlich es auch sein mag – intelligente Automatisierung. Und das ist nicht dasselbe.


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